Erinnerungs und Zukunftsort Heil- Pflegeanstalt Erlangen   zweiphasiger Ideenwettbewerb, 3.Preis

23390
Standort Erlangen
Jahr 2023
Interdisziplinäres Team Prof. Dr. med. Michael von Cranach, Psychiater
  Valentina Eimer, M.A. Theaterpädagogin
  Sophia Hartwig, Dipl. Ing. Landschaftsarchitektin
  Bernadette Martial, M.A. Sprachwissenschaftlerin
  Christian Winter, Architekt
  Mia Winter, Architektin
  Bernd Zimmer, Künstler

Offener zweiphasiger interdisziplinärer städtebaulicher und freiraumplanerischer Ideenwettbewerb

Erinnerungs- und Zukunftsort Heil- und Pflegeanstalt Erlangen

Auslober: Stadt Erlangen | Bezirk Mittelfranken | Bezirk Oberfranken    2022/2023

Erinnerungs- und Zukunftsort Heil- und Pflegeanstalt Erlangen
Lasst uns Zeugnis ablegen! Für unsere Vergangenheit und im Hier und Jetzt

Mit einem Erinnerungs- und Zukunftsort auf dem Gelände der ehemaligen Heil- und Pflegeanstalt mitten in der Stadt Erlangen stellt sich die Stadtgesellschaft ihrer Geschichte, der Unmenschlichkeit und den Morden an Menschen mit psychischen Erkrankungen und Behinderungen. Diese fanden im Zusammenhang mit den „Euthanasie“-Verbrechen der T4-Aktion und den anschließenden dezentralen Tötungen durch verhungern lassen und überdosierte Medikamente in der NS-Zeit statt.

Leitgedanke
Das Gedenken der Ermordeten soll unser Bewusstsein erweitern. Es geht dabei nicht nur um die Würdigung der Opfer, sondern auch um das Lernen aus der Geschichte und unsere Auseinandersetzung damit heute. Dieser Erinnerungs- und Zukunftsort ist ein Appell an unsere Menschlichkeit. Er soll uns bewegen, unsere gegenwärtige Haltung zu reflektieren und uns für jede Form von Diskriminierung zu sensibilisieren, um eine Zäsur zur Vergangenheit zu setzen.

Drei Aspekte werden herausgearbeitet:  
Erstens wird der Vertrauensbruch, den die Patienten durch die Ärzte und die Gesellschaft in der NS-Zeit erlitten haben, als wesentlicher Bestandteil der Verbrechen in den Heil- und Pflegeanstalten erfahrbar gemacht.

Zweitens wird gezeigt, dass die Mordaktionen in den „Heilanstalten“ zugleich Modell und Vorstufe für die spätere „Endlösung“ waren.

Drittens wird das Trümmerfeld thematisiert, das die Medizin, insbesondere die Psychiatrie uns nach 1945 hinterließ, indem die Opfer nicht anerkannt und die Medizinverbrechen nur halbherzig gesühnt wurden.

Bei all diesen Aspekten berücksichtigt unser Konzept sowohl die Perspektiven der Opfer, der Täter, der Menschen mit Behinderungen, der Angehörigen, des Widerstandes, der Psychiatrie und der Forschung wie auch den Wandel dieser Perspektiven durch die Zeitgeschichte von der Gründung der Klinik 1846 bis heute.

Wir sind überzeugt, dass nur durch Aufklärung das Mitgefühl entstehen kann, das zum Intervenieren bewegt. Dieser Ort soll kein Museum sein, durch das man passiv hindurchgeht. Vielmehr gibt er durch die interdisziplinäre Vorgehensweise aus der Architektur, Landschaftsarchitektur, Psychiatrie, Pädagogik, Kunst und Philosophie  Impulse, die aus den Betrachter:innen Akteure machen. Der Gestaltungsvorschlag ist nur ein erster strukturierender Ansatz, der zu einer Diskussion um die Sichtbarmachung der Ausgrenzung damals und heute anregt. Die Teilhabe der Menschen mit Behinderungen soll den Hauptansatz bilden.

Gestalterische Umsetzung
Der Erinnerungs- und Zukunftsort spannt sich auf zwischen dem Platz der Leere und der Insel der Stille, die außerhalb des Klinikgeländes liegen und wird somit Teil der Stadt. Er führt barrierefrei über mehrere Stationen durch das Klinikgelände: Haus des Forschens mit Palmenzitat | Weg des Vertrauensbruchs mit Anstaltsgärten und Mauer der Ermordeten | Raum der Opfer | Trümmerfeld | Haus des Dialoges | Roter Faden mit Scores (Aufgaben)

Der Platz der Leere, hier wird der Verlust erfahrbar 
Am Maximiliansplatz, Schnittpunkt zwischen Stadt und Klinik, gegenüber vom Eingang zur ehemaligen Anstalt, an dem die Menschen ihre Identität und ihr Leben verloren haben, soll spürbar werden, was jedem Einzelnen und uns als Gemeinschaft genommen wurde. An diesem leeren Platz ohne Informationstafeln oder jegliche Ablenkung kann jede:r einen persönlichen Zugang zur Thematik finden. Zwei Baumreihen stellen den Platz in direkten Bezug zur ehemaligen Direktion. Der Weg aus geschliffenem Asphalt um den Platz ist in eine Rasenfläche gebettet. Eine Vertiefung in Form einer Kuhle aus gestampftem Beton symbolisiert den unvorstellbaren Verlust. 
 

Das Palmenzitat, erinnert an das perfide Heilsversprechen 
Palmen auf dem Vorplatz der ehemaligen Direktion (jetzt Haus des Forschens) zitieren eine Postkarte von der Heil- und Pflegeanstalt aus dem Jahr 1902 und symbolisieren das ursprüngliche humanistische Heilsversprechen, das in der NS-Zeit gebrochen wurde.

Das Haus des Forschens, Ort der Aufklärung 
Als Zeichen dafür, dass wir heute einen anderen Weg gehen, wird der ehemalige Eingang des Direktionsgebäudes zugemauert. Ein neuer Zugang wird seitlich über den Palmenplatz geschaffen und eine neue Adresse definiert. Hier werden die Verbrechen dokumentiert: der frühere Ort der Administration der verdeckten Morde wird zum Ort der Transparenz. Dem Haus des Forschens wird ein 2,5-geschossiger Baukörper angefügt, der sich mit dem Bestandsgebäude verschränkt und den Empfangsbereich mit Café bildet.  Während die Räume im 2. OG der Verwaltung und Forschung gewidmet sind, wird im ganzen EG ein Gesamtüberblick mit Analysen der Fakten angeboten. Analog zu den Projekten der Forensic Architecture werden die Taten in ihrer nüchternen Grausamkeit dort erfahrbar gemacht. Die akribische Beschreibung von für sich banalen Abläufen macht die Komplexität des ganzen Prozesses sichtbar. Im 1. OG werden Angehörige und Interessierte bei der Suche nach Namen und Lebensgeschichten unterstützt. So kann jedes einzelne Opfer dem Vergessen enthoben werden.

Der Weg des Vertrauensbruchs führt in die Stille des Gedenkens 
Ein 200 Meter langer, in das Klinikgelände eingeprägter Weg aus geschliffenem Asphalt führt vom Haus des Forschens zum Raum der Opfer. Von mehreren Ost-West-Verbindungen gekreuzt, geht er entlang von Anstaltsgärten und Maulbeerbäumen wie sie damals für die Selbstversorgung und körperliche Ertüchtigung der Patienten gedacht waren. Die Struktur der früheren Gärten wird nachgebildet. Torrahmen aus Eisen, in die das Kreuz eingestanzt ist, mit dem die Ärzte ihr Todesurteil besiegelten, gliedern die Gärten und erinnern an die nicht mehr existierenden Kliniktrakte. Unser Blick wird durch diese Einrahmung fokussiert: Wir fühlen uns an den Ort zurückversetzt, an dem die Opfer gelebt und gelitten haben. Auf der anderen Seite steht die Mauer der Ermordeten: „Wer nicht arbeiten kann, fällt zur Last und wird zur Verbesserung des Volkskörpers entsorgt“.

Das Gegenüber von den Anstaltsgärten und der Mauer der Ermordeten verbildlicht den Vertrauensbruch. 2500 Stehlen aus Eisenzylindern lehnen sich an einer menschenhohen Mauer aus Stampfbeton. Sie sind verschieden lang und breit, stehen senkrecht, quer oder liegen. Ihre körperliche Präsenz erinnert an verletzte und geschundene Menschen, an sterbende Patienten. Durch die Auswahl des Materials entsteht ein ständiges Rosten als Symbol für unsere nie endende Trauer. Die Rosttränen werden in einer Rinne entlang der Mauer aufgefangen. In der Dämmerung und in der Nacht wird die Mauer sanft beleuchtet.

Der Raum der Opfer, Ort der Andacht
Am Ende der Mauer der Ermordeten steht der Raum der Opfer. Er stellt sich in unseren Weg. Frei im Erdreich auf Höhe des Weges stehend und aus Stampfbeton mit den Maßen 9x9x9 m konzipiert, besteht er aus einer äußeren und einer inneren Hülle. Die äußere Hülle bietet mit einem Umgang Raum für die Besucher:innen. An der Innenwand des Raumes werden in 9 Reihen hinterleuchtete Namenstafeln der Opfer angebracht, die nach und nach ergänzt werden. Die innere Hülle, aus einem Vieleck mit fallenden Flächen bestehend, bildet einen unfassbaren Raum, dessen Bodentiefe die Ebene der Hungerstationen erreicht. Seine dunkle Oberfläche ist mit Wasser gefüllt, auf dem die Lichter, die von der Decke durch Prismen nach unten gelangen, sich wiederspiegeln. Sie stehen für die unzähligen Seelen, derer wir gedenken. 
Der Raum der Opfer leuchtet ausschließlich über die Namenstafeln und die Lichter auf dem Wasser.

Das Trümmerfeld, das die Psychiatrie nach 1945 hinterließ 
Das Trümmerfeld symbolisiert unseren Umgang mit den Opfern der Psychiatrie in der Nachkriegszeit bis heute und besteht aus den Abbruchsteinen des im Mai 2023 abgerissenen Flügels der Männer-Hungerstationen. Gegenüber dem Max-Planck-Institut werden an der Wand entlang der Rampe am Trümmerfeld Zitate von Tätern wie Julius Hallervorden und Werner Villinger angebracht, die nach dem Krieg trotz ihrer Verbrechen mit dem Bundesverdienstkreuz geehrt wurden.

Der rote Faden, Verbindungslinie zwischen den Tatorten in der Stadt
In Ergänzung zu den bestehenden Stolpersteinen und anderen Gedenkorten der Stadt werden alle wichtigen Tatorte gekennzeichnet: Frauenklinik, Altes Rathaus im Palais Stutterheim, Schlossplatz als Ort der Bücherverbrennung, SPD-Parteihaus, Exerzierplatz, Hugenottenplatz, Kinderklinik, Erlanger Bahnhof, Güterbahnhof Erlangen, Altstädter Friedhof und Zentralfriedhof.

Torrahmen, Würfel als Sitze und Tische, soweit der Stadtraum es ermöglicht, sollen Besucher:innen und Vorbeigehende auf den roten Faden aufmerksam machen. Auf einer Seite der Torrahmen bieten Texte, Bilder und Audiodateien Informationen über den historischen Kontext. Auf der gegenüberliegenden Seite regen einfache Aufgaben (Scores) die Besucher:innen dazu an, mit kleinen kreativen Interventionen die eigene Perspektive zu wechseln. Was würden wir heute in dieser Situation tun, als Pfleger:innen, Mediziner:innen, als Teil unserer  Gesellschaft? Würden wir den Mut aufbringen, für unsere Mitmenschen einzustehen? Der Platz vor dem Haus des Dialoges bietet eine Übersicht aller Scores, die sich dem Wandel der Gesellschaft und der Diskussion immer wieder anpassen und uns dabei ein Spiegel sein sollen.

Das Haus des Dialoges, die Zukunft gestalten
Das Haus des Dialoges befindet sich im Restgebäude der Schwabachanlage und wird zu einem Ort der Begegnung und des Austausches. Es erhält an der Südseite einen Eingangsvorbau mit einem Luftraum über drei Geschosse, mit Empfang und Café im EG. Der Mittelteil des Gebäudes wird auf allen Ebenen entkernt. Die Reste der Patiententrakte im Souterrain (heute EG) bleiben unangetastet. Dort wird eine Dauerausstellung konzipiert, die die Hungerstationen und das Leben und Leiden einzelner Opfer dokumentiert. Die Beschreibung einzelner Biografien ermöglicht eine emotionale Auseinandersetzung mit dem Thema. Die ehemaligen Patiententrakte im 1. und 2. OG sind offen für Wechselausstellungen und Seminare. Im Mittelteil des 1. OG befindet sich ein Raum, der in Kooperation von Künstler:innen und Menschen mit Behinderungen gestaltet wird. Darüber, im 2. OG entsteht ein zentraler, bis zum Dach erweiterter, sakral anmutender Raum, in dem Tagungen stattfinden. Hier stellen sich die Menschen ihrer Verantwortung.  


Die Insel der Stille, „Trotzdem Ja zum Leben sagen“
Auf der Halbinsel an der Schwabach gelegen ist diese Insel ein Ort der Stille, der Demut und der Hoffnung. Sie ist dem Ansatz von Viktor Frankl gewidmet: „Trotzdem Ja zum Leben sagen“. Über eine Brücke erreichbar bildet die Insel der Stille einen symbolischen Gegenpol zum Platz der Leere. Sie wird von einem kleinem Rundweg aus geschliffenem Asphalt umfasst und lädt mit einer durchgehenden Bank zur Sammlung und Meditation ein. Das Innere der Insel bleibt naturbelassen.


m8architekten Christian Winter Mia Winter PartmbB, München

Interdisziplinäres Team:
Prof. Dr. med. Michael von Cranach | Psychiater
Valentina Eimer | M.A. Theaterpädagogin
Sophia Hartwig | Dipl. Ing. Landschaftsarchitektin
Bernadette Martial | M.A. Sprachwissenschaftlerin 
Christian Winter | Architekt
Mia Winter | Architekt
Bernd Zimmer | Künstler

MitarbeiterInnen: 
Denis Aust | Studentin der Architektur
Anna Hutter | Studentin der Architektur
Alicia Jaschek | Studentin der Innenarchitektur
Lucia Neumayer | Master of Arts Innenarchitektur
Lilian Ruth | Praktikantin
Simeon Sklorz | Bautechniker und Zimmerermeister
Benjamin Stalb | Architekt

München 2023

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